Mehr Demokratie durch Kumulieren und Panaschieren auf Bundesebene

Auf den ersten Blick ist der Wahlvorschlag der Regierungsparteien ein Schritt nach vorn. Der Bundestag wird kleiner und vielleicht effizienter. Er ist damit um ein Vielfaches besser als das bestehende Wahlsystem oder der „Rolle-rückwärts-Vorschlag“ der CDU-Opposition.
 
Ein kleines Rechenbeispiel:
Stellen wir uns mal vor: Wir haben bei der Bundestagswahl 21 fast gleich starke Parteien, die jeweils ca. 4,8 % der Zweit- oder Hauptstimmen erringen. Dann würden nur die Direktmandate zählen. Wenn aber alle Direktstimmen an eine Partei gehen, hätten wir wie im Mehrheitswahlrecht eine Ein-Parteien-Regierung,  was in keiner Weise den Willen der WählerInnen abbildet. Sicher ein extremes Beispiel. Aber nur mit extremen Beispielen kann man die Schwächen eines Wahlsystems erkennen.
Das Beispiel und die Diskussion dazu zeigt: Zwei gravierende Probleme löst der aktuelle Regierungsvorschlag nicht bzw. nur unzureichend: Die Gleichberechtigung kleiner Parteien, die die 5%-Hürde nicht schaffen und vor allem die Politikverdrossenheit mit dem Berufspolitikertum.
 
Kleine Parteien haben wegen der undemokratischen 5%-Hürde schlechtere Chancen, weil aus Angst vor verlorenen Stimmen viele WählerInnen dann das kleinere Übel der Etablierten wählen, was dann das Meinungsabbild sehr verzerrt. Es geht also nicht nur um die bis zu 10% Stimmen von WählerInnen, die die kleinen Parteien oft zusammenbringen, sondern auch um die weiteren 20% WählerInnen, die aus Angst vor verlorenen Stimmen die Etablierten wählen. Der Vorschlag einer „Ersatzstimme“, mit der beim Scheitern an der 5%-Hürde, die Stimme erst dann den Etablierten zufließen würde, könnte dieses Problem etwas entschärfen. Allerdings ist damit zu rechnen, dass die etablierten Parteien alles in Bewegung setzen, diese „Ersatzstimme“ nicht ins Wahlgesetz zu kriegen, da sie sich damit eines Teils ihrer „Kleineres-Übel-Wählerschaft“ entledigen. Schätzungsweise könnten die etablierten Parteien damit ein Viertel bis ein Drittel ihrer WählerInnenschaft verlieren.
Die „Ersatzstimme“ verbessert aber nicht die Situation des „Berufspolitikertums“, in dem die Parteigremien entscheiden, wer auf eine Wahlliste darf, in welcher Reihenfolge sie aufgestellt würde und welche DirektkandidatInnen gemeldet werden. Der Widerspruch zwischen Meinung der  Partei und der WählerInnen wird nicht aufgelöst. Was ist damit gemeint?
Wer heute bei etablierten Parteien als Direkt- oder ListenkandidatIn vorgeschlagen wird, hat mit der Meinung der WählerInnen nicht viel zu tun. Meist muss die Person innerhalb der Partei lange Zeit die Tippeltappeltour durch die Gremien hinter sich haben. Neue Ansätze in den Parteien bleiben weitgehend außen vor. Die Parteien bewegen sich im eigenen Saft. Die Parteiposition entspricht oft nur teilweise der Meinung der WählerInnen. Neue Ideen bleiben außen vor. Es ist nicht möglich, die Reihenfolge auf den Listen zu verändern, weil es Partei- und keine Einzelstimmen sind. Das führt auch dazu, dass das Interesse an Mitwirkung in den Parteien, mit denen man nur eine teilweise Übereinstimmung der politischen Positionen feststellt, nicht da ist.
Eine wesentliche Verbesserung des Wahlrechtes wäre hier die Einführung von Kumulieren und Panaschieren auf Bundesebene, so wie das bei vielen Kommunalwahlen durchgeführt wird.
Es gäbe in Deutschland 16 Wahlbezirke, jedes Bundesland. Man bräuchte keine Erst- und Zweitstimme und auch keine Haupt- und Ersatzstimme. Die Wahllisten der einzelnen Bundesländer könnten durch das Wahlergebnis verändert werden. Die Bereitschaft zur Mitwirkung würde steigen und jedeR ListenkandidatIn hätte ein besonders hohes Interesse, sich für die Partei einzusetzen, weil die Stimmenverteilung natürlich durch sehr viele Einzelstimmen das Gesamtergebnis verbessert. 
Die Entscheidung, wer überhaupt auf die Liste kommt, bleibt natürlich bei den Parteigremien. Sie können selbstverständlich Personen ablehnen, bei denen die politischen Positionen zu abweichend sind. Auf der anderen Seite entsteht ein großes Interesse, viele Personen auf die Wahllisten zu bekommen, weil deren Stimmen die Gesamtstimmenverteilung positiv beeinflussen. Durch die zu erwartenden Kandidaturen von Nicht-Partei-Mitgliedern bzw. Quereinsteigern wächst das abgebildete Meinungsspektrum. Auch die abgeschlossenen „Parteiblasen“ werden offener.
Wenn gleichzeitig die 5%-Hürde nicht mehr zutreffend wäre, könnte das auch als ein kleiner Schritt zu mehr „direkter Demokratie“ gewertet werden. Auch die regionale Verteilung, der lokale Bezug der Mandate (Abschaffung der Erststimme) könnte weitgehend gesichert werden, da davon auszugehen ist, dass direkte KadidatInnen stärker in ihren Regionen gewählt werden.
Das entscheidende Argument ist aber die Unabhängigkeit der Gewählten von der Parteiräson. Bei abweichender Meinung und einem daraus folgenden abweichenden Abstimmungsverhalten muss nicht die „Abstrafung“ bei der nächsten Listenaufstellung befürchtet werden. Alle Gewählten können viel freier, unabhängiger und direkter ihre Meinung zur Abstimmung bringen. Natürlich haben es Regierende dann schwerer, Mehrheiten zu organisieren. Aber das ist der Preis für mehr direkte Demokratie. Das sollte uns es wert sein. 
Schauen wir uns Bundestag und Landtage an: Es ist nicht damit zu rechnen, dass die etablierten Parteien einem demokratischeren Wahlrecht zustimmen, das ihre Vorherrschaft, Privilegien und Macht antastet. Wenn berechtigterweise das nur mäßig demokratische Wahlrecht endlich verändert werden soll, braucht es radikalere Vorschläge aus der Zivilgesellschaft. Und vor allem mehr Druck.
Dazu gibt es eine Reihe von Ansätzen und Möglichkeiten. Wenn z.B. sich Parteien, die einzeln kaum die 5%-Hürde schaffen, sich zusammenschließen und eine gemeinsame Liste aufstellen, könnte das ein erster Schritt für ein demokratischeres Wahlrecht sein. Leider tun sich viele Parteien, die dafür in Frage kämen, schwer, eine derartige gemeinsame und „neutrale“ Liste zu finden. Zu stark hängt man an der Besonderheit der eigenen Programmatik und Identität. Dieser fehlende Einigungswille könnte zwar prinzipiell mit der Ersatzstimme verändert werden. Aber richtig Angst haben die etablierten Parteien vor einer gemeinsamen Liste, weil dann ihre gesetzgeberischen Vorgaben zum Wahlrecht noch schärfer hinterfragt würden.
Denken wir aber mal positiv: Fast ein Dutzend Kleinparteien einigen sich, auf einer gemeinsamen Liste anzutreten. Viele WählerInnen haben endlich eine Alternative, über diese gemeinsame Liste ihre InteressenvertreterInnen in den Bundestag oder Landtage zu entsenden. Beispiel:
Eine gemeinsame Liste aus MERA25, Piratenpartei, Klimaliste, Volt, ÖDP, Die Partei, Demokratie in Bewegung, Bedingungsloses Grundeinkommen, Tierschutzpartei, Humanwirtschaftspartei u.a.  schafft es, gemeinsam über 5% zu kommen. Bei einem Wahlergebnis von mind. 5% ist mit mehr als ca. 30 Mandaten zu rechnen. Das bedeutet, jede der teilnehmenden Parteien könnte mit ca. 3 Mandaten rechnen. Das ist besser als jeder Alleingang unter 5% mit einer Wahlkampfkostenpauschale für Parteien über 0,5%.
Vor allem gäbe es die Möglichkeit, sowohl eigene Anliegen zu artikulieren als auch, was wesentlich ist, gemeinsame Schnittstellen für gemeinsame politische Projekte zu finden. Für ein solches Projekt steht  die  „Allianz Zukunft“ als verbindender Rahmen zur Verfügung, diesen notwendigen politischen Schritten ein Gesicht zu geben.
 
Stellt Euch mal vor, was unter diesem gemeinsamen Dach möglich wäre (einige Beispiele):
• MERA25 könnte den europäischen „New Green Deal“ voranbringen.
• Die Partei könnte das Verhalten der etablierten Parteien verspotten.
• Die Piratenpartei könnte das bestehende Urheberrecht wirksam kritisieren.
• Die Klimaliste könnte das Versagen der Grünen thematisieren und für konsequenten Klimaschutz politisch sensibilisieren.
• Volt könnte für eine gemeinsame solidarische klimaneutrale EU werben.
• Die Tierschutzpartei könnte ihren Forderungen nach konsequentem Tierschutz mehr Gewicht geben. 
• Die ÖDP könnte konsequenten Artenschutz und andere ökologisch-soziale Fragen wie die ökologisch-soziale Steuerreform mehr thematisieren.
• Demokratie in Bewegung könnte den übergreifenden alternativen demokratischen Politikansatz mit anderen kombinieren.
• Bündnis Grundeinkommen könnte die Diskussion zum Bedingungslosen Grundeinkommen in ein gemeinsames politisches Projekt führen.

• Die Humanwirtschaftspartei könnte den geld- und bodenreformerischen Ansätzen mit anderen politischen Ideen kombinieren.

Das ist ein offener Vorschlag, der zeigt, welche Bedeutung sowohl die Wahlrechtsreform als auch ein gemeinsames Vorgehen der bisher durch die 5%-Klausel benachteiligten Parteien hätte.
Ich kann mir vorstellen, dass ein gemeinsames Vorgehen aller der genannten und weiterer Parteien auf sehr viel mehr Zustimmung in großen Teilen der Wählerschaft führen würde als nur eine Addition der einzelnen Prozentanteile. Gerade viele Wählerinnen und Wähler würden das als Zeichen werten, endlich wirksame Veränderungen in der derzeitigen Gesellschaft voranzubringen.

Zum Verfasser:

Prof. Dr.-Ing. Michael Rost war bis 2022 „Sicherheit und Gefahrenabwehr“ an der Hochschule Magdeburg-Stendal lehrend.
In den 90er-Jahren Mitglied von Bündnis 90/Die Grünen, zeitweise bei der Piratenpartei und seit 2022 Unterstützer von „Allianz Zukunft“